Modebureau Silke Bücker

The Time Is NowDOWNLOAD PDF

‚Random’ – das Leitmotiv der Herbst-/Winter-Saison 2015/16 manifestiert sich in modischen Grenzüberschreitungen als Reaktion auf die absurde Schnelllebigkeit unserer Zeit. Das Ergebnis sind intuitiv konzipierte Kollektionen, die Konventionen negieren, nicht klar kategorisierbare Formen und Silhouetten, konträre oder seltsam erscheinende Material-Clashes sowie modische Referenzen aus vergangenen Dekaden mit futuristischer Attitüde, die zu einem Jetzt-Gefühl verschmelzen.

DIE CHAOS-THEORIE

Die maximale Komplexität – vielmehr ein chaotisch anmutendes Potpourri – zwingt den Betrachter förmlich zum Innehalten, zu einer Fokussierung auf den Augenblick, den er in seiner Vielschichtigkeit jedoch nur ansatzweise begreifen kann. Das Resultat ist zunächst ein Gefühl der Machtlosigkeit, der konstanten Reizüberflutung eher unfreiwillig und willkürlich gegenüber zu stehen, ohne Dinge, Momente oder Begegnungen überhaupt einordnen zu können. ‚Alles bleibt im Fluss’ ist im zweiten Schritt die positive Ableitung aus diesem Zustand. Rei Kawakubos Kollektion für Comme des Garçons mit dem Titel ‚The Ceremony of Separation’ motiviert zu diesem Schluss, der letztlich auf der buddhistischen Lehre basiert – im Hier und Jetzt zu verweilen, die Dinge ziehen zu lassen, nicht festhalten zu wollen, Abschied zu nehmen, ohne einen wehmütigen Blick zurück. Die Japanerin zeigte in Paris skulpturale, mitunter verstörende Kreationen auf Basis von Spitzen, Bändern und Schleifen, die aus den unterschiedlichsten Ländern zusammengetragen wurden; allesamt in den Trauerfarben der jeweiligen Kultur oder Religion – Schwarz, Weiß und Gold. Und wo könnte eine Stilistik der Momenthaftigkeit besser aufgehoben sein als in der Mode, dem flüchtigsten, irrationalsten und unkalkulierbarsten Metier überhaupt?

Eine weitere Referenz-Kollektion in diesem Kontext ist einmal mehr die von Phoebe Philo für Céline, die es meisterhaft versteht, die heterogenen Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Frauen modisch auf den Punkt zu bringen und damit vorerst einen Schlussstrich unter die von ihr mitinitiierte Ära von Komfort, Normcore und Understatement zieht. Ihr Blick auf Frauen in unserer Zeit ist facettenreich, subtil, intellektuell und lässt Raum für eine individuelle Interpretation. Uneindeutige Silhouetten, überraschende Proportionen, unfertige Formen, komplexe Material-Melangen und gewagte Layerings tragen dem unvorhersehbaren und unsteten Zeitgeist Rechnung. Inmitten des Chaos zu einer Balance zu finden, ist die bedeutsamste Herausforderung unserer Zeit – weit über die Mode hinaus. Philo selbst formuliert ihren Ausgangspunkt so: „Me and my design team began this season with a list of questions: What is too much? What is not enough? And what looks authentic?“ Auch Karl Lagerfeld, der gemeinhin stets unbeirrt nach vorne prescht, gibt sich dieser Tage vergleichsweise bedächtig: „It’s a change of spirit. Everything seems real and unreal at the same time“, konstatierte er gegenüber Cathy Horyn von der New York Times.

‚Random’ als textile Antwort auf das rasante Tempo unserer Lebenswirklichkeit, das wiederum allem voran der Digitalisierung geschuldet ist, oder – als Gegenentwurf – die Fokussierung einer Essenz, als mahnende Forderung zur Rückbesinnung auf den Ursprung. Einer, der sich vor wenigen Saisons entschloss, noch einmal seinen Einfluss geltend zu machen, obwohl er sich eigentlich zur Ruhe setzen wollte, ist Yohji Yamamoto. So zeigte er im Centre Georges Pompidou einerseits einfach drapierte Silhouetten und subtile Re-Interpretationen des traditionellen Kimonos, andererseits überdimensionale, skulpturale Röcke, die mittels Metallstreben zu ihrer ausladenden Form gelangten, ohne kunstvoll oder gar prätentiös zu sein und dennoch mit dem Couture-Gedanken kokettieren. Hierbei hatte Yamamoto den Rohbau eines Gebäudes vor Augen, jenen stählernen Kern, der für Stabilität sorgt und später unter Beton verschwindet. „Grounded fashion“ nennt er das, Mode mit Substanz, die er mit zurückgenommenen Klängen bewusst bedächtig und in Slow Motion untermalte – so wie ein Schüler, der zum allerersten Mal am Klavier sitzt, die Tasten erkundet. Die Interpretation ist anders, die Grundüberlegung die gleiche wie die der ‚Random’-Idee: nämlich der Ausdruck von Ohnmacht, einem grotesken System ausgeliefert zu sein. Starke Botschaften, die zur Reflektion anregen, sind in der Mode rar geworden, ebenso Kollektionen, die mehr als das Attribut ‚ästhetisch’ verdienen – oft sind sie noch nicht einmal mehr das.

Die derzeit noch prägnanteste und relevanteste Quelle, aus der sich Innovation und Evolution speisen, ist offenkundig das intuitive Spiel mit unterschiedlichsten Texturen, die wie zufällig miteinander in Kontext gesetzt werden. Eine Meisterin des Patchings ist allen voran Chitose Abe, die Designerin hinter der japanischen Marke Sacai, die einmal mehr spannende Ansätze zeigte, indem sie etwa einen schweren Ledermantel unkonventionell mit Pelz und dazu mit langen gehäkelten Fransen verzierte.

DER SINN DES LAUFSTEGS

Dass es einige gute und wenige sehr gute Kollektionen über New York, London, Mailand und Paris hinweg zu sehen gab, ändert nichts an einer fundamentalen Systemkritik. Denn offensichtlich verkommt der Catwalk zusehends zum Marketing-Tool, zu einer Präsentationsfläche für Banalitäten und Kuriositäten, die selten überraschen oder gar fesseln. Mehr als 70 Looks sind es nicht selten, die eilig vorbeirauschen – wer soll da mitkommen? Dass der Kern einer Kollektion durch die Fülle an Outfits verwässert wird, ist eine weitere negative Auswirkung. Was vorgibt, Mode zu sein, ist oft nicht mehr als cleveres Styling; spätestens im Showroom zerfällt die zuvor vielleicht noch vielversprechend erscheinende Idee sprichwörtlich in ihre Einzelteile, so dass die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines Defilees für die Prêt-à-porter zu Recht gestellt werden darf. Man spürt es am Schluss-Applaus. Er ist müde geworden. Geredet wird davor und währenddessen über vieles, aber nur selten über Mode. Noch während die letzten Models den Laufsteg verlassen, springt das Publikum auf und sputet zum nächsten Termin. Was zurückbleibt in Kopf und Herz: nicht viel, wie denn auch? Trend Forecaster Li Edelkoort bringt das Desaster auf den Punkt: „Fashion shows are becoming ridiculous, 12 minutes long, 45 minutes driving, 25 minutes waiting. Nobody watches them anymore. The editors are just on their phones, nobody gets carried away by them.“ Dies offen zuzugeben traut sich so recht niemand – zu sehr ist man verpflichtet gegenüber Anzeigenhttp://silkebuecker.de/wordpress, verbandelt mit PR-Agenturen, gefangen in der eigenen Sucht nach Prestige und Anerkennung. Die Mode ist ein Mekka der Eitlen, und die sind statt selbstbewusst oft einfach nur unsicher – Standpunkte und Meinungen, die nicht in den allgemeinen Tenor einstimmen, sind in der Generation ‚Like’ leider zur Ausnahme geworden.

MACHT MAL LANGSAMER!

Einerseits ist es bedauerlich, wie wenig nachhaltiges Interesse an Mode unter Professionals tatsächlich noch vorhanden scheint. Andererseits ist es angesichts der Anzahl an vermeintlich wichtigen Shows, Re-Sees und Präsentationen während der Modewochen kein Wunder, dass die Anwesenden durch Abwesenheit glänzen – weil sie schlichtweg übersättigt und wie jeder Mensch eben nur begrenzt aufnahmefähig sind. Eine Designerin wie Rei Kawakubo aber zwingt zur Aufmerksamkeit: Ihre Shows gelten im Mode-Zirkus als absolute Ausnahme, mal radikal, mal poetisch, mal entrückt – doch immer relevant und fokussiert auf das, wozu der Laufsteg in seiner ursprünglichen Form gedacht war, nämlich eine neue Idee von Bekleidung in Relation zum Körper zu präsentieren. Mode, die berührt und verzaubert, aber auch kritisiert, unbequem ist und aufwühlt, da sie die Gesellschaft mit all ihren Ängsten, Sorgen, Zweifeln, Hoffnungen und Sehnsüchten spiegelt. Natürlich kann Radikalität nicht die Antwort auf alle Fragen sein, die das System derzeit aufwirft – etwa die, wie man zu einer Entschleunigung und damit zu neuer Energie und einem Gefühl von Zufriedenheit für alle Beteiligten gelangt. Dass es der Mode an Innovationskraft mangelt, liegt ja nicht daran, dass das Kreativ-Potential nicht ausreicht, sondern letztlich am Profitstreben der großen Konzerne und Investoren, die ihre Designer in Strukturen mit wenig Freiraum pressen, immer mehr Kollektionen fordern – die noch mehr Präsentationen und Defilees nach sich ziehen, von repräsentativen Pflichten mal ganz abgesehen, dabei immer die strategischen Ziele, die Bedürfnisse einer internationalen Klientel und die Heritage des Hauses als stete Begleiter beim Kreativ-Prozess im Hinterkopf. So wird man das Gefühl nicht los, dass ein Genie wie Raf Simons, der bei Christian Dior durchaus einen guten Job macht, doch besser reüssieren könnte, wenn er nicht all diesen Anforderungen gerecht werden müsste. Was er wirklich zu leisten im Stande ist, sieht man eindrucksvoll an seiner Menswear-Kollektion unter eigenem Namen. So wundert es nicht, dass die Performances von ‚Independents’ wie den Japanern oder auch
Belgiern wie Dries van Noten oder Christian Wijnants nach wie vor zu den überzeugendsten zählen: Wie und wo auch immer man ihre Kollektionen einordnet – sie erscheinen stets konsequent, eigenwillig und autark. Auch, dass Christophe Lemaire sich durch seinen freiwilligen oder unfreiwilligen Rückzug aus seiner Position als Kreativ-Chef bei Hermès fortan voll und ganz auf seine eigene Marke Lemaire konzentrieren kann, tut seiner Kollektion sichtlich gut, die einmal mehr untermauert, dass sich der Balanceakt zwischen Mode und Tragbarkeit durchaus meistern lässt, ohne sich in Langeweile oder Absurdität zu verlieren. Und der Erfolg gibt dem Franzosen Recht: Innerhalb von nur einem Jahr konnte das Unternehmen Lemaire seinen Umsatz mit e-Commerce auf 3,1 Millionen Euro. verdoppeln, für 2015 visiert man optimistisch ein Ergebnis von 5,5 Millionen Euro an.

WER PASST ZU WELCHER MARKE?

Denn natürlich ist Mode vor allem ein Geschäft, vielleicht eines der härtesten überhaupt. Sie ist l’air du temps, absolut unkalkulierbar, abhängig von unzähligen Befindlichkeiten in immer rasanterer Taktung. Nichtsdestotrotz: Wenn ihre kreative Kraft leidet, wenn ihr die Frische und Newness fehlt, ist dies – wie sich aktuell vielerorts auch zeigt – schlichtweg schlecht für die Performance am Markt. So bedarf es nicht nur viel Fingerspitzengefühls seitens der Designer, den Balanceakt zwischen Innovation und Tragbarkeit zu meistern, sondern auch der Fähigkeit, den richtigen Designer für eine Marke zu finden – wenn wir über Konzerne wie Kering oder LVMH sprechen. Unter Kering, angeführt von François-Henri Pinault, der wiederum Hedi Slimane zum Kreativchef erhob, performt Saint Laurent seit dem radikalen Kurswechsel Slimanes geradezu sensationell: Innerhalb von drei Jahren haben sich die Umsätze von 353 Millionen Euro im Jahr 2011 auf 707 Millionen Euro 2014 verdoppelt – hierbei wächst die Ready-to-wear noch vor Taschen und Accessoires, die gemeinhin als Umsatzbringer gelten, mit allein 23 Prozent Zuwachs im letzten Jahr am schnellsten. Auch LVMH-CEO Bernard Arnault, der vor einem Jahr J.W. Anderson für Loewe holte, bewies nicht zum ersten Mal ein glückliches Händchen. Die spanische Marke, bekannt für feinste Lederwaren, hatte außerhalb ihres Heimatlands bis vor kurzem kaum jemand auf dem Schirm. Aktuell aber ist Andersons textile Hommage an die Achtzigerjahre, sein feingeistiger Umgang mit Materialien, sein Gefühl für Farbe und Formen, sein Talent, Klassikern ein kontemporäres Facelift zu verpassen, verantwortlich dafür, dass Loewe international heißer als heiß gehandelt wird. Der berstend volle Showroom in den Tagen nach dem Pariser Defilee untermauerte diesen Umstand einmal mehr. Ob Renzo Rosso, Gründer der Jeansmarke Diesel und CEO des Konzerns OTB, ähnlich gut daran getan hat, John Galliano, der für seinen dramatisch-theatralischen Stil bekannt ist, an die Kreativ-Spitze des Maison Margiela zu setzen, darf hingegen bezweifelt werden. Gallianos Couture-Debüt für das Haus weckte durchaus Hoffnungen, die die Prêt-à-porter aber nur wenige Wochen später weitestgehend zunichte machte.

ZURÜCK ZUR COUTURE

So sehr, wie die Gesellschaft heterogen und komplex ist, darf es auch die Mode sein, und manchmal ist es inmitten all der Extravaganzen durchaus wohltuend, Kollektionen zu entdecken, die schlichtweg gut gemacht sind, die nicht provozieren wollen, die intuitiv verständlich sind, von textilem Know-how und einem Bewusstsein für Proportionen zeugen, ohne gleich das Rad neu erfinden zu wollen. „It’s the end of fashion as we know it. Fashion with a big F is no longer there. And maybe it’s not a problem, maybe it’s actually a good moment to rethink. Actually the comeback of couture, which I’m predicting, could bring us a host of new ideas of how to handle the idea of clothes“, skizziert Li Edelkoort den Ausweg aus dem Dilemma. Damit fordert sie die Rückkehr zu einem längst etablierten Modell, das aktuell an Relevanz gewinnt: „Überlasst den Catwalk der Couture!“, um in überspitzer Form eine Idee von Mode zu illustrieren, die kommerzialisiert für frische Impulse in der Prêt-à-porter sorgen kann. Ein Konzept, das Rei Kawakubo wieder verfolgt, seit sie die Mode nach eigener Aussage nicht mehr inspirierend findet – ob man es nun Couture nennen mag oder nicht. Mit ihren beeindruckenden Laufsteg-Präsentationen erreicht sie eine Intensität, die wohl kaum jemanden im Publikum dazu verleitet, verlegen sein Smartphone zu fixieren – stattdessen aber vielleicht eine Gänsehaut beschert oder zu Tränen rührt. Das ist es doch, was sich letztlich jeder wünscht, der einem Defilee beiwohnt. Ihre jüngste Show in Paris kommentierte Kawakubo mit so wenigen wie wegweisenden Worten: „Clothing gives you energy and release – allowing you to look forward in a positive way and move forward from the separation.“

Vielleicht ist es wirklich Zeit, Abschied zu nehmen. Von einem Konstrukt, das sich selbst kannibalisiert und damit in weiten Teilen seiner Sinnhaftigkeit und Relevanz beraubt.

TM Textilmitteilungen 14/2015